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Aktivitäten des Willy-Brandt-Kreises - Reisebericht Mai 2004

Mitglieder der Reisegruppe in Breslau, grösseres Bild

Vom 16. bis 18. April 2004 haben einige Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises das Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien in Wroclaw, dem früheren Breslau, besucht. Das Zentrum ist in einem von der Universität Wroclaw erworbenen, renovierten Haus aus den dreißiger Jahren direkt an der Oder gegenüber der Universität untergebracht und am 18. Juli 2002 in Anwesenheit des polnischen Ministerpräsidenten Miller und Bundeskanzler Gerhard Schröder feierlich eröffnet. Das Zentrum wird zur Hälfte vom DAAD finanziert; 50 Prozent trägt die Universität Wroclaw selbst. Dieter S. Lutz, der das Zentrum maßgeblich mitkonzipiert hatte, wurde zum Präsidenten des Zentrums ernannt. Mit Freude stellten wir fest, dass heute der Vorlesungssaal des Zentrums nach ihm benannt ist. Direktor des Instituts ist der Historiker Dr. Krzysztof Ruchniewicz. Das Zentrum beinhaltet Lehrstühle für Germanistik, Geschichte, Kommunikations- und Kulturwissenschaft, Politologie, Rechtswissenschaft sowie Wirtschaftswissenschaft und bietet ein zweijähriges interdisziplinäres und interkulturelles Aufbaustudium für die genannten Fächer sowie ein dreijähriges Doktorandenkolleg.

Am Abend des ersten Besuchstages hielt Egon Bahr in der mit prächtigen Fresken aus dem 18. Jahrhundert versehenen Aula Leopoldina der Universität einen simultan ins Polnische übersetzten Vortrag mit anschließender Diskussion über Polen und Europa vor der Osterweiterung. Die von einem Zuhörer geäußerte Befürchtung, Polen könne dadurch seine Unabhängigkeit verlieren, wies Bahr zurück und äußerte Respekt vor der überraschenden Entscheidung Polens, sich im Irakkrieg einzusetzen. Selbstverständlich bleibe die nationale Selbstbestimmung der neuen Mitgliedsländer erhalten. Im übrigen brauche niemand mehr eine deutsche Vormachtstellung zu befürchten, denn nun seien endlich alle Staaten auf einem gleichberechtigten Stand. Bahr äußerte ebenfalls Verständnis für die Dominanz der Amerikaner in der Weltpolitik, von der sich die Europäer jedoch emanzipieren sollten. Andererseits spricht Bahr vom "deutschen Weg", der in engem Zusammenwirken mit Frankreich zu einem Europa führen soll, das seine Partnerschaft mit Amerika noch erringen muss. (Nachzulesen in: Egon Bahr, Der deutsche Weg. Selbstverständlich und normal. Erschienen im Siedler-Verlag 2003.)

Unsere Gruppe wurde vorbildlich von Kalina Mroz-Jablecka, der Sekretärin des Zentrums, betreut, der wir am Vormittag des zweiten Tages eine kenntnisreiche Stadtführung und die Organisation einer ausgedehnten Begehung des jüdischen Friedhofes an der Lohestraße durch den Generaldirektor aller Museen in Wroclaw, Dr. Maciej Lagiewski, verdanken, der uns quasi über jedes Grab ausführliche Informationen und humorvolle Hintergrundgeschichten bot und uns gleichzeitig Insiderkenntnisse der Stadt und seiner Bevölkerung vermittelte. Wir sind ihm hierfür zu großem Dank verpflichtet.

Am Nachmittag fand im Willy-Brandt-Zentrum eine Veranstaltung mit Daniela Dahn zum Thema "Vertreibung" statt, wobei das umstrittene Zentrum gegen Vertreibung diskutiert wurde. Daniela Dahn, deren Familie selbst aus Breslau vertrieben worden war, betonte, dass sie ein "Zentrum gegen Krieg" gerechtfertigter fände, denn nicht nur die Vertriebenen hätten unter den Kriegsfolgen gelitten.

Den Abend beschloss eine Diskussion über die polnische Literatur im Beisein von Prof. Fleischer, der den Lehrstuhl für Kommunikation und Kultur innehat, wobei jeder der Teilnehmer diejenigen polnischen Autoren oder Filme vorstellte, die ihm etwas bedeuteten. Daraus entwickelte sich ein angeregtes Gespräch, das bei einem schlesischen Essen im Ratskeller der Stadt fortgesetzt wurde.

Am nächsten Morgen führte Friedrich Schorlemmer die Gruppe zu einem Denkmal des Dietrich Bonhoeffer, einem in Breslau geborenen Theologen, der im Widerstand gegen die Nazis eine maßgebliche Rolle gespielt hatte und 1945 hingerichtet wurde.

Zum Abschluss unseres gelungenen Besuchs bestiegen wir den Mathematikturm der Universität, der vom 17. Meridian durchquert wird, um noch einmal einen letzten Rundblick auf die hervorragend restaurierte Stadt an der Oder zu genießen.

(Heinke Peters)

Teilnehmer:
Egon Bahr, Daniela Dahn, Friedrich und Christine Dieckmann, Anne Fritsche (Friedrich-Ebert-Stiftung), Jochen Laabs, Hans Misselwitz, Irina Mohr, Heinke Peters (IFSH), Friedrich Schorlemmer.